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Kulturelle Aneignung!?

Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Menschen seltsam angesehen, wenn sie sich Rasta- Zöpfe flechten ließen, wenn sie traditionell chinesische Kleidung trugen oder afrikanische Tänze einübten. Dann galt so etwas als Zeichen großer kultureller Offenheit. Zwischenzeitlich hat sich der ideologische Wind in der Gesellschaft wieder einmal gedreht. Mit großer Empörung und massiven Unterstellungen wirft man jungen Europäern, die Reggae spielen, Rasta- Zöpfe tragen oder indianischen Schmuck herstellen, nun „kulturelle Aneignung“ vor. Dieser neu erfundene Sachverhalt mit dem man wieder einmal seine besondere Sensibilität und persönliche Gerechtigkeit gegenüber einer vorgeblich ignoranten Gesellschaft beweisen kann, geht davon aus, dass kulturelle Bräuche und Techniken legitim nur von der Gruppe praktiziert werden dürften, die sie ursprünglich erfunden hat. Wer sich nicht an diese neuen ideologischen Regeln hält, der wird schnell als verkappter Kolonialist oder Dieb fremden kulturellen Eigentums diffamiert. In diesem Zusammenhang wird selbstgerecht gerne auch angemerkt, dass Indianer sich zwar selbst als „Indianer“ bezeichnen dürften, Europäer aber, politisch korrekt, nur von „Indigenen“ oder „amerikanischen Ureinwohnern“ sprechen dürften. Gleiches gilt dann natürlich auch für Zigeuner, Eskimos, Frauen und Männer. Sofern er überhaupt weiß wer oder was er ist, darf sich der Betreffende bezeichnen wie er will. Außerstehende aber sind verpflichtet, ausschließlich die gerade gesellschaftlich gültigen Formulierungen zu verwenden.

In einer über Jahrzehnte multikulturell geprägten Welt wirken solche Vorstellungen irgendwie überraschend und deplatziert. Tatsächlich plündert der westlich- postmoderne Mensch schon lange weitgehend bedenkenlos das kulturelle Erbe anderer Völker. Häufig reißt man dabei Musik, Kleidung und religiöse Vorstellungen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang, um sie dann besser verkonsumieren zu können. In der Esoterik beispielsweise werden hinduistische, buddhistische, jüdische und schamanische Elemente beständig aus ihrem eigentlichen Kontext gelöst und recht willkürlich neu zusammengefügt. Die ursprüngliche Bedeutung eines Begriffs oder einer Handlung wird dann gewöhnlich ignoriert. Nach eigenen Vorlieben wird alles umgedeutet, bis der Anhänger der jeweiligen Religion seine eigenen Überzeugungen selbst nicht mehr wiedererkennt. Manchmal gibt der westliche Esoteriker dann sogar noch vor, der eigentlich authentische Buddhist oder Hindu zu sein. Das ärgert den natürlich vollkommen zurecht, der ganz in der entsprechenden Kultur lebt.

Trotzdem ist der massiv erhobene Vorwurf „kultureller Aneignung“ reichlich problematisch. Zum einen könnte man sich doch auch freuen, wenn viele Menschen anderer Länder plötzlich für bestimmte Elemente der eigenen Kultur oder Weltanschauung Interesse zeigen; auch wenn sie diese dann verändern oder uminterpretieren. Immerhin hebt deren Anteilnahme die Bedeutung der eigenen Traditionen und Vorstellungen deutlich hervor. Zum anderen verrät der Vorwurf „kultureller Aneignung“ eine ziemlich seltsame Vorstellung fremder Lebensweisen. Kulturen sind gewöhnlich nicht statisch, sondern befinden sich in einer beständigen Veränderung. Kulturen, Religionen und Musikstile nehmen regelmäßig neue Gedanken auf und integrieren sie in das eigene Konzept. So ist der Islam ohne das Christentum nicht denkbar, von dem er viele Elemente übernommen und dann umgedeutet hat. Muslimen deshalb pauschal „kulturelle Aneignung“ zu unterstellen, wirkt irgendwie absurd. Natürlich können Menschen anderer Kulturen Elemente christlichen Glaubens aufnehmen und umformen, auch wenn Christen das als Verfälschung verstehen. Wenn jemand bestimmte Aspekte oder Stile einer anderen Kultur übernimmt, dann ist das weder verboten noch unmoralisch, sondern ein deutliches Zeichen für die Attraktivität dieser Kultur. Wohl jeder Musik- oder Kleidungsstil und jede Weltanschauung oder politische Idee ist schließlich irgendwann von anderen geprägt und beeinflusst worden. Diesen vollkommen normalen Austausch tabuisieren zu wollen, widerspricht der überall anzutreffenden Wirklichkeit und führt in konsequenter Anwendung zu einer ideologisch gewollten Verarmung des Lebens.

In der Konsequenz führt der Vorwurf „kultureller Aneignung“ zu gesellschaftlicher Isolation und zu steigendem Nationalismus. Denkt man dieses Konzept weiter, dann dürfen am Ende nur noch Kenianer kenianische Frisuren tragen und kenianische Musik aufführen. Im Umkehrschluss dürften natürlich auch nur noch Deutsche, Bach oder Mozart spielen und alle asiatischen Musikstudenten müssten schleunigst ausgewiesen werden, um deren „kulturelle Aneignung“ nicht zu unterstützen. Man dürfte auch kein chinesisches oder italienisches Essen mehr genießen, es sei denn es ist auch von einem Vertreter der jeweiligen Kultur gekocht worden. Unter dem Vorwurf „kultureller Aneignung“ müsste man natürlich auch die meiste Popmusik tabuisieren, weil sie zumeist Elemente afrikanischer und afroamerikanischer Kultur aufgenommen hat. Im Gegenzug müsste man Indern verbieten Krankenhäuser und Universitäten zu unterhalten, weil sie sich damit sachfremd Elemente europäischer Kultur aneignen. Ist es dann auch illegitim, wenn Chinesen über den deutschen Philosophen Immanuel Kant diskutieren oder afghanische Frauen über Feminismus, wobei beides ganz deutlich aus der europäischen Kultur stammt? Deutsche sollten wohl am besten nur noch deutsche Küche mit Sauerkraut und Kartoffeln konsumieren, um sich beim Kochen keiner „kulturellen Aneignung“ schuldig zu machen. Wobei nicht vergessen werden darf, dass auch die Kartoffeln, der Mais und der Schwarztee natürlich aus ganz anderen Kulturen stammen, also eigentlich auch tabu wären.

Manchmal fördert der Vorwurf „kultureller Aneignung“ auch den Irrationalismus und den Mystizismus. Neutrale oder sogar kritische Kommentare von außen versucht man mit dieser Behauptung bequem zurückzuweisen, weil man einfach pauschal behauptet, dass es nur noch dem Nigerianer erlaubt sei Aussagen über Nigeria zu machen und nur noch Indianer über Vorstellungen der Indianer sprechen dürfen. Dabei wird schnell unterschlagen, dass viele Indianer oder Nigerianer deutlich weniger über ihre eigene Kultur wissen als interessierte Außerstehende, denen mit dem pauschalen Vorwurf „kultureller Aneignung“ aber undifferenziert der Mund verboten wird. Nur weil jemand in einer entsprechenden Kultur oder einem entsprechenden Land geboren wird, ist er eben nicht generell qualifiziert gültige Aussagen darüber zu machen. Anderen Menschen generell Böswilligkeit und Unfähigkeit zu unterstellen ist wenig reflektiert und kann logisch kaum begründet werden.

Wendet man diese Argumentation auch nur einigermaßen konsequent an, dann müsste man biologistisch davon ausgehen, dass kulturelle Kompetenz vor allem eine Frage der Genetik ist. Einfach weil ein Mensch in einem bestimmten kulturellen Umfeld aufgewachsen ist, gilt er quasi als Eigentümer und einzig legitimer Interpret dieser Kultur. Im Kern verbergen sich hinter diesem Konzept rassistische Vorstellungen. Gerade die „völkische Ideologie“ der Nationalsozialisten argumentierte häufig ganz ähnlich. Nur die Arier könnten demnach das Germanentum richtig verstehen und interpretieren, nicht aber die Amerikaner, Russen oder Mitglieder anderer Völker, war man überzeugt So wollte man seine germanische Kultur rein halten von fremden Einflüssen. Wenn etwas wissenschaftlich nicht belegbar war, dann berief man sich einfach auf das vorgeblich spezielle Wissen germanischer Arier, was Außenstehende eben nicht nachvollziehen könnten. Wer ehrlich ist, wird allerdings schnell zugeben, dass gerade die kritischen Kommentare von Menschen anderer Prägung und Kultur absolut notwendig sind, um eigene Einseitigkeiten und Fehler erkennen zu können. Da ist es absolut hilfreich, dass Menschen sich nicht von einer vorgeblich „kulturellen Aneignung“ abschrecken lassen und europäische Vorstellungen kritisch kommentieren. Ebenso können und sollen Europäer Kulturen anderer Länder durchdenken und kritisch reflektieren.

Gerade der christliche Glaube ist international und im Kern überkulturell. Christen wollen eine „kulturelle Aneignung“ ihres Glaubens in anderen Ländern. Das nennt man dann „Inkulturation“. Menschen anderer Kulturen übernehmen den Kern christlichen Glaubens und bilden ihn dann mit ihren Instrumenten, ihrer Kunst, ihrer Sprache, ihrer Architektur usw. ab. Das ist vollkommen legitim und sogar beabsichtigt. Kulturen müssen nicht statisch erhalten bleiben wie sie zu einem willkürlich festgelegten Zeitpunkt existierten. Kulturen dürfen andere Elemente aufnehmen und nach ihrem Umfeld umprägen. Kulturen sind lebendig und prägen sich gegenseitig oder sie sterben. Christen wünschen sich, dass Menschen aus vielen Kulturen sich mit ihren Glaubensinhalten und Traditionen beschäftigen, selbst wenn am Ende manche den Kern des Glaubens missverstehen können. Andererseits aber wird dabei christliche Wahrheit beständig in neuen kulturellen Formen ausgedrückt und fester Bestandteil des Lebens fremder Völker.

(von Michael Kotsch)

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