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Weniger ist mehr

In Westeuropa gilt für viele Bereiche: „Je mehr, desto besser!“ Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ging es vor allem um ein Mehr an einfachen Konsumgütern. Dann wollten sich immer mehr Menschen leisten, was ursprünglich nur einer dünnen Oberschicht vorbehalten war: Flugreisen, ein eigenes Haus, einen Zweitwagen oder besondere technische Geräte. Zwischenzeitlich haben sich die Bedürfnisse etwas verfeinert. Viele Menschen suchen nach mehr Aufmerksamkeit, vor allem vor dem Hintergrund einer größeren gesellschaftlichen Individualisierung und Abgrenzung. Man möchte mehr Freude, vor allem im Internet, und mehr positive Kommentare auf alltägliche, persönliche Meldungen. Auch unter Kollegen und in der unmittelbaren Umgebung kann es kaum genug positive Aufmerksamkeit geben.

Daneben geht es sehr häufig um ein Mehr an Erlebnissen. Wer es sich leisten kann, der fährt möglichst häufig in Urlaub und sammelt dabei möglichst viele Eindrücke, Fotos, Erlebnisse und Andenken. Insgesamt geht es aber auch darum, exklusivere, ausgefallenere Dinge zu erleben: ganz besondere Hotels oder abgelegene Weltgegenden. Eine Vielzahl von Erlebnisse kann man auch sammeln indem man Partnerschaften wechselt, Anstellungen oder Weltanschauungen und Therapien. Das Leben ist kurz und man spürt den Drang in der verblebende Zeit so viel wie möglich unterzubringen. Soziologen sprechen stellenweise bereits von einem regelrechten „Erlebnis- Stress“. Man kann sich kaum auf eine bestimmte Situation voll konzentrieren und sich an ihr wirklich freuen, weil man währenddessen schon wieder an andere attraktive Events und Möglichkeiten denkt, die man währenddessen nicht wahrnehmen kann. Das mindert natürlich die Freude und erzeugt eine nie stillbare Sucht nach mehr.

Mehr soll es für viele Menschen auch bei dem klassischen Konsum von Gütern geben. Allerdings bezieht sich das Mehr heute nicht unbedingt auf die bloße Quantität des Konsums, wie in früheren Jahrzehnten, sondern auf die echte oder vermeintliche Qualität. Man sucht nicht mehr nach Massen an Kleidung oder Möbeln, dafür aber nach umso ausgefalleneren Stücken; natürlich nur, wenn man die finanzielle Möglichkeit dazu hat. Neben der bloßen Qualität oder dem ganz besonderen Design spielt heute beim Kauf irgendwelcher Güter vor allem ein Maximum an „Gerechtigkeit“ eine wichtige Rolle. Kleidung oder Nahrung müssen möglichst mit einer besonderen Liebe oder Leidenschaft, einer eingängigen Geschichte, ökologisch, sozial, gesundheitlich und politisch korrekt angeboten werden. Oft nehmen bei Warenbeschreibungen solche Aspekte bereits einen deutlich größeren Raum ein, als die Beschreibung der Ware an sich.

Aufgrund neuer technischer Möglichkeiten steigt auch der Konsum von Nachrichten und anderen Medieninhalten rasant an. Das Handy ermöglicht ständig, auch in den kurzen Pausen des Alltags, Medieninhalte zu konsumieren. Um hier ein persönliches Maximum zu erreichen, werden die einzelnen konsumierten Beiträge immer kürzer und immer weniger wirklich verarbeitet. Schnell füllt Mediennutzung die gesamte freie Zeit aus, wenn man nicht selbst ganz bewusst und konsequent Grenzen setzt.

Christen erleben die Sucht nach Mehr auch im geistlichen Bereich. Je nach Frömmigkeits- Typ strebt man allerdings nach etwas unterschiedlichen Dingen. Die einen bemühen sich beständig um mehr fromme Leistung, Gebete, theologisches Wissen oder den Besuch von entsprechenden Veranstaltungen. Andere suchen nach einem Mehr an religiösen Erfahrungen, quantitativ in mehr Lobpreis oder Visionen bzw. qualitativ in ständig neuen, vorgeblich geistlich gesteigerten Erfahrungen: heute das Reden in Zungen, morgen das Heilen für alle, die persönliche Kommunikation mit Engeln, Wundern jeden Tag, der Berufung zum Apostel, vollmächtigen Befehlen an die Natur usw. Auch diese Suche nach Mehr wird schlussendlich natürlich nie befriedigt, ähnlich wie bei dem Mehr an Urlaub, Kleidung, Medien oder wirtschaftlicher Gerechtigkeit.

Natürlich kann und soll ein Christ im Glauben wachsen. Immer wieder freut er sich an den täglichen Geschenken Gottes. In sehr vielen Situationen des Lebens gilt allerdings: „Weniger ist mehr!“. Die ständige Suche nach Mehr führt allzu häufig zu einer unguten Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, der eigenen Gemeinde, den eigenen Begabungen oder der eigenen Familie. Die ständige Suche nach mehr führt auch dazu, Informationen, Güter, Erlebnisse und Beziehungen nicht richtig würdigen und schätzen zu können. Wer nur die Hälfte YouTube- Videos sieht, hat schlussendlich mehr Möglichkeit die jeweiligen Inhalte auch zu verarbeiten, kritisch zu betrachten oder aufs eigene Leben anzuwenden. Seltenere Urlaube können die Vorfreude steigern, sie bleiben deutlich länger in Erinnerung und werden nicht schon bald durch andere Ferien- Bilder verdrängt. Die Suche nach immer neuen geistlichen Steigerungen kann schnell dazu führen, Gott in den Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten gering zu schätzen.

Die andauernde Suche nach Mehr ist häufig auch ein Zeichen innerer Leere, von Unausgefülltsein, Unzufriedenheit. Gott aber will so erfüllen, dass Christen auch mit dem Vorhandenen glücklich und zufrieden sein können, sodass manchmal das Weniger an Gütern, Informationen und Erlebnissen eine innere Ruhe und Gelassenheit vermittelt, die viel Menschen gegenwärtig so sehr vermissen. Viele Nachrichten muss man eigentlich auch gar nicht wissen. Sie beunruhigen, ohne dass der Hörer irgendetwas verändern kann. Schon Stunden später wird die Meldung bereits von einer anderen noch aktuelleren oder scheinbar wichtigeren verdrängt. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, einen bestimmten Urlaubsort gründlich auf sich wirken zu lassen, statt möglichst viele Regionen zu besuchen. Auch in dieser Frage gibt es natürlich keine Regel ohne Ausnahme. Die unbändige Sehnsucht nahe Mehr aber ist eher im Wesen des gottfernen Menschen verankert, für den diese Güter und Erlebnisse alles bedeuten. Und es ist ein Charakteristikum der europäischen Postmoderne, die den Menschen mit seinen Gefühlen und Erfahrungen in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellt und nicht Gott.

In der Bibel findet sich durchaus immer wieder ein „Weniger ist mehr“, eine Konzentration auf die Geschenke Gottes im Alltag, auf die Informationen, die wirklich für das eigene Leben relevant sind, auf die Probleme, die heute mit der Hilfe Gottes gelöst werden müssen. Oft ist ein „Das muss ich nicht hören oder lesen“, „Das muss ich nicht wissen!“ oder „Das muss ich nicht haben!“ befreiend und entspannend. Vieles, was sich aufdrängt oder innere Wünsche weckt, ist bei genauerer Betrachtung weitgehend überflüssig und irrelevant. Das was ein Christ tut sollte er mit ganzer Überzeugung und ganzem Einsatz machen, ohne sich dabei von unzähligen Nachrichten, Angeboten und Problemen ablenken zu lassen.

„Ich habe gelernt, mit dem zufrieden zu sein, was ich habe. Ich kann in Armut leben und mit Überfluss umgehen. Ich bin in alles eingeweiht. Ich weiß, wie es ist, satt zu sein oder zu hungern; ich kenne Überfluss und Mangel. Durch den, der mich stark macht, kann ich in allem bestehen.“ (Philipper 4, 11-13)

„Denn wir haben nichts in die Welt hineingebracht, und es ist klar, dass wir auch nichts hinausbringen können. Wenn wir aber Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen!“ (1.Timotheus 6, 7+8)

„Habt acht und hütet euch vor der Habsucht! Denn niemandes Leben hängt von dem Überfluss ab, den er an Gütern hat.“ (Lukas 12, 15)

(von Michael Kotsch)

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