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Das Alte Testament für Christen

Auf die Frage nach ihrem Lieblingstext antworten die meisten Christen mit einem Vers oder einer Geschichte aus dem Neuen Testament. Das wundert natürlich nur wenig. Immerhin wird im Neuen Testament das Leben Jesu und die Grundlage der christlichen Gemeinde beschrieben. Im Gegensatz zum Alten Testament, mit seinen vielen Regeln und seiner immer wiederkehrenden Grausamkeit, kommt hier den meisten Lesern das Neue Testament deutlich vertrauter und auch attraktiver vor. Schon mehrfach in der Kirchengeschichte wurde deshalb sogar vorgeschlagen, sich in der „christlichen Bibel“ alleine auf das Neue Testament zu konzentrieren und das Alte besser ganz zu streichen. Schlussendlich aber entschied man mehrheitlich immer dagegen und das nicht nur, weil damit viele spannende Geschichten verloren gehen würden. Bis heute bildet deshalb das Alte Testament den größten Teil der Bibel. Diese Bücher der Heiligen Schrift haben Christen und Juden gemeinsam. Sogar Muslime akzeptieren das Alte Testament als ehrwürdige Mitteilung Gottes; zumindest solange es den Aussagen des Koran nicht widerspricht.

Mancher wird diese Diskussion kaum nachvollziehen können. Immerhin enthält das Alte Testament doch zahlreiche wichtige Geschichten, die man durchaus in Erinnerung behalten sollte; Berichte vom Kampf Davids gegen den Riesen Goliath beispielsweise oder vom Propheten Jona, der von einem übergroßen Fisch verschluckt wird. Diese Geschichten unterhalten, faszinieren und regen zum weiteren Nachdenken an. Kaum irgendwelche anderen Texte sind währen der vergangenen 2000 Jahre in Europa so häufig abgebildet, nacherzählt oder musikalisch umgesetzt worden, wie die Geschichten des Alten Testaments. Sie prägten die Vergangenheit und das Selbstverständnis der Europäer bis in Sprache, Feiertage und Wertvorstellungen hinein.

Auch wer etwas akademischer an das Alte Testament herangeht, lernt dessen eindrückliche Berichte schnell zu schätzen. Immerhin finden sich hier ausführliche Beschreibungen zum Leben und Denken der alten Ägypter, Babylonier und Israeliten. Damit ist das Alte Testament eine wichtige Quelle zur Vorgeschichte Europas. Historische Entwicklungen der Philosophie, Soziologie, Psychologie und natürlich des christlichen Glaubens lassen sich ohne diese Texte kaum richtig nachvollziehen.

Für überzeugte Christen gibt es außerdem noch ganz andere Gründe, das Alte Testament besonders hoch zu schätzen. Lange vor dem Abschluss des Neuen war bereits das Alte Testament das heilige Buch der Gläubigen, aus dem bei jeder ihrer gottesdienstlichen Zusammenkünfte vorgelesen wurde. Jesus, Petrus und auch die anderen Apostel schätzten es hoch (Mt 5, 17-20; Röm 3, 28-31). Viele der in der Bibel wiedergegebenen Predigten des Paulus drehten sich um eine geistliche Deutung des Alten Testaments (z.B. Röm 9, 1-13). Letztendlich ist das Neue ohne das Alte Testament unvollständig und nur teilweise verständlich. Ohne die entsprechende Vorgeschichte kann man die Bedeutung Jesu und die Entstehung der christlichen Gemeinde kaum richtig einordnen. Ganz selbstverständlich gehen die Autoren des Neuen Testaments deshalb auch von der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte aus, vom Sündenfall der ersten Menschen, von der Existenz eines einzigen Gottes, von der Erwählung Israels, von den Zehn Geboten, von der Ankündigung des Messias als Vermittler zum Schöpfer und vielem anderen mehr.

Erst mit den entsprechenden Informationen des Alten Testaments erhalten viele Aussagen der neutestamentlichen Autoren ihre volle Bedeutungstiefe. Dazu gehören Ausführungen über die Trennung des Menschen von Gott, über Recht und Unrecht, über Ehe und Familie, über das Leben nach dem Tod, über die Seele und vieles andere mehr. Auch bei den Autoren des Neuen Testaments selbst, die mit ihren Schriften am Anfang des christlichen Glaubens standen, gab es keine strikte Trennung zum Alten Testament. Ganz im Gegensatz dazu betonten sie sogar eine durchgehende Heilsgeschichte, von der Schöpfung bis zur zukünftigen Aufrichtung des ewigen Reiches Gottes. Dabei greifen Altes und Neues Testament untrennbar ineinander. Die alttestamentlichen Propheten kündigten an, was sich zur Zeit des Neuen Testaments erfüllte (Mt 13, 17; Hebr 11, 8-13).

Immer wieder werden im Neuen Testament auch Personen des Alten als Vorbilder besprochen (Gal 3, 1-9; Jak 2, 21-26). Bis heute können Christen vom Gottvertrauen eines Abraham, vom Mut eines David oder der Weisheit eines Salomo lernen. Auch wenn sich die Gläubigen des Neuen Testaments ganz besonders an Jesus Christus gebunden wissen, fühlen sie sich doch mit den Vorbildern des Alten Israel verbunden. Gott ist und bleibt derselbe im Alten und im Neuen Testament. Auch wenn die zahlreichen Opfer- und Reinheitsvorschriften für Christen nicht mehr von derselben Relevanz sind, erkennen sie dieselben Prinzipien des Handelns Gottes über die Jahrtausende hinweg. Natürlich vergessen Christen auch nicht, wie hoch Jesus selbst das Alte Testament schätzte und dringend davor warnte, es zu missachten oder als überholt abzutun (Mt 5, 17-20; Lk 24, 25-27).

Wie für die meisten anderen Lehrer der Kirchengeschichte war auch für Martin Luther das Alte Testament fester Bestandteil christlichen Glaubens. Gerade im Alten Testament zeigt Gott demnach detailliert was als richtig und was als falsch betrachtet werden muss. Hier lernen Menschen die ewig gültigen Maßstäbe Gottes kennen und begreifen. Deutlich wird ihnen vor Augen geführt, dass sie schon immer schuldig sind und waren. Auch wenn sich die einen Menschen etwas besser verhalten als die anderen, gibt es niemanden, der sündlos ist und deshalb unmittelbar zu Gott kommen könnte. Gerade deshalb ist schlussendlich jeder auf die Vergebung der Schuld durch Jesus Christus angewiesen. Alle christlichen Predigten sollten nach Luther immer Gesetz und Evangelium enthalten. Das besonders im Alten Testament entfaltete Gesetz soll dem Zuhörer ganz plastisch seine Schuld vor Augen führen. Der Blick auf den stellverstretenden Tod Jesu am Kreuz im Neuen Testament soll dann den Weg zur Vergebung der Schuld aufzeigen. Außerdem sind die Gebote des Alten Testaments für den Reformator noch immer die beste Grundlage für die Gesetzgebung des Staates.

Insgesamt ist das Alte Testament für Christen ein unverzichtbarerer Bestandteil der universal gültigen Offenbarung Gottes an alle Menschen. Für Nachfolger Jesu kommt deshalb weder eine Vernachlässigung noch eine Verwerfung des Alten Testaments infrage.

(von Michael Kotsch)

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