Kaum jemand möchte sich das vorstellen. Das eigene Kind stürzt beim Spielen auf den Kopf, verletzt sich dabei schwer und fällt ins Koma. So erging es im April 2022 der englischen Familie Battersbee mit ihrem zwölfjährigen Sohn Archie. Vier Monate lag das Kind daraufhin im Krankenhaus, dann entschieden Ärzte die Behandlung abzubrechen und den Jungen sterben zu lassen. Die Eltern kämpften trotzdem für das Leben ihres Sohnes. Erst setzten sie sich für die weitere Behandlung des Kindes ein. Als das keine Aussicht auf Erfolg mehr hatte, wollten sie ihren Sohn wenigstens in der ruhigen Atmosphäre eines Hospizes sterben lassen. Ein Gericht entschied gegen die Eltern und erlaubte, den Tod des Jungen herbeizuführen. Im chronisch überlasteten britischen Gesundheitssystem hat diese Entscheidung natürlich auch mit finanziellen Aspekten zu tun. Schon seit Jahren gibt es viel zu wenige Ärzte und auch zu wenig Geld. Patienten werden häufig gar nicht behandelt oder müssen selbst bei schweren Erkrankungen jahrelang auf eine notwenige Operation warten. Immer häufiger lässt man Menschen zwischenzeitlich sterben, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand überleben könnten.
Auch in Deutschland wird eine durchaus problematische Sterbehilfe mit dem Argument beworben, dass man den Patienten doch lediglich „sterben lässt“. In Wirklichkeit ist das zynisch und verschleiert den eigentlichen Sachverhalt. Zumeist geht es darum, dass man das Leben eines kranken, alten oder behinderten Menschen als nicht mehr lebenswert beurteilt und deshalb durch die Unterlassung einer notwenigen Behandlung den Tod des Patienten herbeiführt. Dabei wird schnell verdrängt, dass natürlich jede medizinische Therapie das „Sterben- Lassen“ eines Patienten verhindert. Es ist eben geradezu das Wesen der Medizin gegen Krankheit und Tod zu kämpfen. Die eigentlich heute im Hintergrund stehende Frage lautet eher, warum man den einen Menschen „sterben lässt“ und den anderen eben nicht. Dahinter verbergen sich ethisch sehr problematische Abwägungen über den jeweiligen Lebenswert eines Menschen. Statt den Betreffenden dann ganz offensichtlich zu töten verbreicht man ihm eine Überdosis Betäubungsmittel oder entzieht ihm notwendige Flüssigkeit und Nahrung. Bei einem Patienten den man als lebenswert qualifiziert, würde man dasselbe natürlich nicht machen, auch wenn er auf die regelmäßige Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung angewiesen ist.
Viele haben heute Angst vor sogenannten „lebensverlängernden Maßnahmen“ ohne die dann wirklich konkret zu benennen. Im Kern ist natürlich jede medizinische Behandlung eine „lebensverlängernde Maßnahme“. Ohne einen Bypass würden viele Herzkranke bald sterben. Ohne regelmäßige Blutwäsche könnten Nierenkranke nicht überleben. Ebenso geht es Menschen, die ohne Antibiotika unter einer schweren Infektion leiden oder Patienten, die auf ihre Blutverdünnungsmittel angewiesen sind. Im Kern geht es in der heutigen Gesellschaft nicht um die pauschale Ablehnung jeder „lebensverlängernden Maßnahme“, sondern um die illegitime Bewertung über lebenswert und nicht mehr lebenswert.
Aus christlicher Sicht ist eine solche Entscheidung unzulässig und darf höchstens von Gott, dem Geber und Eigentümer jedes Lebens, getroffen werden. Wer hier einer allgemeinen Diskussion die Tür öffnet, kommt am Ende notwendigerweise zu einer weitgehenden Entwertung menschlichen Lebens, insbesondere bei denjenigen die von ihren Leistungen und Fähigkeiten her nicht oder nicht mehr der gerade gültigen Norm entsprechen. Zuerst appelliert man dann gewöhnlich noch an die Entscheidung des Patienten selbst oder seiner Angehörigen. Entscheiden die aber nicht so wie sie sollen, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartet, wie beispielsweise im Fall der zwölfjährigen Archie, dann wird über den Kopf des Patienten und seiner Eltern trotzdem dessen Tod beschlossen.
Noch sind Situationen wie in England hierzulande nicht denkbar. Das ist mittlerweile aber nur eine Frage der Zeit. Immer stärker werde auch in Deutschland zwischenzeitlich verschiedene Formen der Sterbehilfe diskutiert und beworben. Auch hier versucht man die Tötung eines Menschen als vorwiegend passiven Akt darzustellen, als ob mit dem Abbruch einer Behandlung oder Ernährung ein notwendiger, natürlicher Prozess ablaufen würde, auf den das Umfeld keinerlei Einfluss mehr habe. Aufgrund der beständig abnehmenden Zahl von Ärzten und Pflegekräften werden zukünftig viele Behandlungen nicht mehr so stattfinden, wie man das bisher gewohnt war. Eine Zwei- Klassen- Medizin wird immer stärker zur Realität, mit einer allgemeinen Basisbehandlung für alle und selbstfinanzierten Therapien für die Wohlhabenden.
Auch bei knapper werdenden Ressourcen sollten Christen sich aber strikt davor hüten, über den Lebenswert eines Menschen zu entscheiden, weil das ausschließlich Gottes Angelegenheit ist. Medizinische Behandlungen oder deren Ablehnung dürfen also nicht daran gemessen werden, ob die Gesellschaft das Leben des Betreffenden als wertvoll und lebenswert betrachtet. Leben ist immer ein Geschenk Gottes, der es gibt und auch wieder nimmt. Von ihm aus gibt es natürlich keine Garantie, dass jeder Abschnitt dieses Lebens immer selbstbestimmt, glücklich und schmerzfrei verlaufen wird.
(von Michael Kotsch)