Den schwerwiegenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland bekommt man in Westeuropa fast nur dann mit, wenn gerade wieder einmal die täglichen militärischen Auseinandersetzungen überhandnehmen und gerade keine anderen Meldungen attraktiv genug zu sein scheint. Seit Jahren gibt es einen Bürgerkrieg in der Ost- Ukraine. Immer wieder einmal verstärkt sich der Dauerkonflikt, insbesondere, wenn russische oder westliche Politiker eine der beiden Konfliktparteien verbal oder militärisch besonders zu unterstützen beginnen. Dabei ist es natürlich kein Geheimnis, dass die pro- russischen Separatisten massiv vom russischen Staat unterstützt werden, während verschieden westliche Länder die ukrainische Regierung unterstützen.
In den Köpfen vieler Beteiligter geht es um weltanschauliche Auseinandersetzungen, einen tiefgreifenden Konflikt zwischen West und Ost. Dabei geht es nicht nur um gesellschaftliche Systeme und unterschiedliche Lebensformen, sondern auch um Religion. Dahinter stecken natürlich immer auch massive politische und wirtschaftliche Interessen. Immerhin ist diese Region der Ukraine wirtschaftlich stark und verfügt über erhebliche Bodenschätze. Außerdem fürchten russische Politiker nicht ganz unberechtigt den Anschluss der Ukraine an die NATO, deren Bündnis sich dann unmittelbar bis vor der eigenen Grenze befinden würde. Andererseits fühlen sich gerade einige osteuropäische Staaten durch die russische Annexion der Krim 2014 und gelegentliche Machtdemonstrationen militärisch bedroht, insbesondere die Länder, die ehemals unter dem Diktat der Sowjetunion standen.
Oberflächlich gesehen geht es um die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung im Osten der Ukraine. Wurden die Ukrainer während er Vorherrschaft der Sowjetunion benachteiligt, begegnen ukrainische Politiker Russen nun ihrerseits mit Vorsicht und teilweise sogar mit Ablehnung. Von Russland aus wird diese unterschwellige Diskriminierung nun verstärkt und instrumentalisiert, weil man dadurch seinen Einflussbereich auszubauen hofft. Man verspricht, die russischsprachigen Ukrainer zu unterstützen und ihnen zu ihrem vorgeblichen Recht zu verhelfen. Gleichzeitig möchte man sie für eine beabsichtigte Westerweiterung Russlands einspannen. Ukrainischen Politikern und westlichen Staatsoberhäuptern ist das natürlich ein unerhörtes Ärgernis. Zum einen will man keinen Krieg in Europa. Zum anderen will man kein Exempel zulassen, weil dann schon bald die nächsten Gebietsansprüche angemeldet werden könnten. Denn auch in anderen osteuropäische Staaten leben viele russischsprachige Menschen, die oftmals erst durch die Politik der Sowjetunion hierher umgesiedelt wurden.
Anfänglich war die Glaubensverbindung von Christen in der Ukraine stärker als der politisch geschürte Nationalitäten- Konflikt. Zwischenzeitlich hat sich die orthodoxe Kirche der Ukraine für unabhängig von der russischen erklärt. Auch evangelikale Christen gehen zunehmend auf Distanz zueinander, obwohl sie doch gerade hier wieder einmal die Möglichkeit hätten, deutlich zu machen, dass der verbindende Glaube stärker ist als die Politik. Leider aber scheint sich abzuzeichnen, dass auch überzeugte Christen sehr anfällig sind für ideologische Propaganda. Zwischenzeitlich distanzieren sich ukrainische und russischsprachige Christen zunehmende voneinander; manchmal bis hin zur offenen Feindschaft. Die eigentlich nationalen und politischen Differenzen werden nun auch auf religiöse Fragen übertragen. Viele russische Freikirchlicher in der Ukraine orientieren sich zwischenzeitlich mehr an den Aussagen der russisch- orthodoxen Kirche und des russischen Staates. Man übernimmt deren nationalistische und theologisch traditionalistische Sicht. Ukrainischen Christen hingegen wird dann vorgeworfen, sie seien liberal und bibelkritisch. Damit will man rechtfertigen, notfalls auch mit Gewalt gegen die Glaubensgeschwister vorzugehen. Es geht nun nicht mehr nur um Politik, sondern vorgeblich auch um die Reinerhaltung des eigenen Glaubens.
Die früher zahlreichen deutschen Mennoniten und Mennoniten- Brüdergemeinden wurden in der Zeit des Kommunismus fast vollständig deportiert und spielen heute in der Ukraine fast keine Rolle mehr. Durch die Missionsarbeit von deutschen Baptisten entstanden in der Mitte des 19.Jahrhudnerts die ersten einheimischen Gemeinden, die sich inzwischen im ganzen Land verbreitet haben. Der ukrainische Baptistenbund ist mit 2800 Gemeinden und rund 150 000 getauften Mitgliedern ist die zahlenmäßig größte Freikirche des Landes. Die Gottesdienste der verschiedenen Gemeinden werden von etwa doppelt so vielen Menschen besucht. 11 000 weitere Baptisten gehören zur „Bruderschaft“, einem traditionalistischen, staatsfernen Gemeindebund. Im östlichen Teil der Ukraine leben noch einmal rund 70 000 russische Baptisten. Besonders in den Städten sind in den vergangenen Jahrzehnten Pfingstgemeinden, charismatische Gemeinden und Adventisten stark gewachsen. Gemessen an den 42 Millionen Einwohnern der Ukraine gibt es vergleichsweise viele freikirchliche Christen im Land.
Zwischenzeitlich gibt es freikirchliche Christen auf Seiten der pro- russischen Separatisten, die auch nicht davor zurückscheuen, mit Gewalt gegen pro- westliche Christen vorzugehen. Diese Glaubensgeschwister sind für sie vorgeblich zu gefährlichen Feinden geworden; verdorben von Materialismus, Unmoral und Bibelkritik, womit zumeist einfach ein offenerer Gottesdienst und intellektuelle Theologie gemeint sind. Auch ukrainische Christen betrachten ihre nach Russland orientierten Glaubensgeschwister zunehmend als Bedrohung, gegen die man vorgehen müsse.
Einige russlanddeutsche Jugendliche tendieren zwischenzeitlich auch in Deutschland zu einem inneren Separatismus, in dem man Putin und Russland idealisiert, auch wenn man nie dort gelebt hat und sich immer stärker von der eigenen Gesellschaft distanzier, die man als ungerecht und ungeistlich empfindet. Russische Medien, die auch auf Deutsch zugänglich sind, fördern diese Tendenz massiv, weil sie dadurch im eigenen politischen Interesse eine Opposition aufbauen wollen, die den deutschen Staat destabilisiert.
Christen in West- Europa sollten wieder einmal ehrlich für Frieden und Versöhnung beten. Wenn es möglich ist, weil beispielsweise persönliche Verbindungen existieren, dann sollte man auch daran arbeiten, dass ukrainische und russisch- orientierte Christen wieder stärken vom Glauben und weniger von der Politik her denken. Schließlich will der Glaube an Jesus Christus nicht nur einen Weg in die Ewigkeit Gottes eröffnen, sondern auch das Zusammenleben der Menschen auf der Erde grundlegend verändern. Wenn Jesus schon dazu auffordert, selbst die Feinde zu lieben, dann sollten Christen doch in der Lage sein, ihre politische Ideologisierung zu überwinden und zumindest die anderen Glaubensgeschwister lieben, auch wenn sie das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine anders einordnen als man das selbst tut. Je länger sich dieser Hass aufbaut und je mehr man sich gegenseitig verletzt, desto schwieriger wird es, den aufgestauten Hass zu überwinden, wie Gott es von seinen Kindern erwartet.
Auch in Deutschland müssen Christen immer darauf achten, ihre Glaubensverbindung zu schützen und zu pflegen, sonst können auch hier schneller als gedacht unterschiedliche politische und gesellschaftliche Einschätzungen zu tiefgehenden und ungeistlichen Zerspaltungen führen. Dass jeder dabei noch irgendwelche Bibelverse zur Rechtfertigung heranzieht, ist dann keine Rechtfertigung, sondern ganz im Gegenteil eine Schande und eine illegitime Instrumentalisierung der Heiligen Schrift. Lasst uns ein Vorbild sein für Liebe untereinander, für Vergebung und für Gottes Reich im Herzen der Menschen, immer an höchster Stelle im eigenen Denken und Handeln.
(von Michael Kotsch)