Reinhard Hirtler ist in den vergangenen Jahren vor allem als Prophet des „Neuen Bundes“ aufgetreten. Bibellesern ist dieser Begriff natürlich gut bekannt. Mit „altem Bund“ bezeichnet man gewöhnlich den Bund Gottes mit Abraham und Mose. Hier sollten primär Opfer gebracht und religiöse Regeln beachtet werden, um die von Gott geforderte Gerechtigkeit zu erhalten. Mit Jesus kam dann der „neue Bund“. Christus war der einzig wirklich gerechte Mensch, der je gelebt hatte. Er erfüllte alle Forderungen Gottes vollkommen und ließ sich aus unendlicher Liebe trotzdem für die Schuld aller anderen Menschen bestrafen. Jedem, der nun seine Sünden bereut, der um Vergebung bittet und Jesu Tod für sich in Anspruch nimmt, wird Vergebung und ein neues geistliches Leben versprochen.
Hirtler, wie schon viele charismatische Prediger vor ihm, vertritt nun die Idee, dass schon alleine mit der Bekehrung und dem Empfang des Heiligen Geistes eigentlich alles getan sei. Der Christ müsse nicht mehr daran arbeiten, sein Leben nach Gottes Willen umzugestalten oder gegen die Sünde zu kämpfen. Im Prinzip besitze der Christ schon alles, was Gott je verspochen habe. Insofern er das nur annehme, bzw. daran glaube, habe er alle Gaben des Heiligen Geistes und könne als perfekter Mensch leben. Natürlich könne ihm zukünftig nichts Schlimmes mehr geschehen, er wäre allezeit gesund, seine Ehe und Familie würde vorbildlich laufen, ebenso seine anderen zwischenmenschlichen Beziehung und sein berufliches Engagement. Nur wer daran zweifelt, diesen ganzen Segen Gottes bereits erhalten zu haben, der könne dann auch weiterhin noch von Krankheit oder Armut betroffen werden, bzw. Schwierigkeiten mit seinem Charakter haben. Man müsse lediglich stark genug glauben, dann sei alles getan. Der Zweifel an den Versprechungen Hirtlers wird zur eigentlichen Todsünde.
Ein Kampf des Christen gegen die Sünde, gegen schlechte Gewohnheiten oder Krankheiten würden sich weitgehend erübrigen. Das ist prinzipiell natürlich eine gute Nachricht. Sie entlastet erst einmal von jedem religiösen und persönlichen Druck. Ernsthafte Christen müssen sich allerdings fragen, ob diese Lehre nicht nur schön klingt, sondern ob sie auch mit der Lehre Jesu und der Aposteln übereinstimmt.
Natürlich gibt es Christen, die zu sehr auf das konzentriert sind, was sie selbst tun können und sollen. Schnell können daraus ein übergroßer geistlicher Druck oder eine falsche Selbstgerechtigkeit werden. Diese Fehlentwicklungen dürfen aber nicht dazu führen, dass man wie Reinhard Hirtler ins andere Extrem verfällt und die eigene von Gott geschenkte Verantwortung vernachlässigt, indem man vor allem nur noch auf das verweist, was Gott für den Christen schon getan hat. Bei ehrlicher Herangehensweise findet sich in der Bibel beides, zum einen Gottes Handeln, das den Menschen in seiner Bekehrung grundsätzlich durch den Heiligen Geist erneuert. Zum anderen aber finden sich auch ziemlich zahlreiche Aufforderungen zur beständigen Veränderung, zum Kampf mit der Versuchung und den eigenen schlechten Eigenschaften, die eben nicht einfach wie von selbst verschwinden wenn man Christ geworden ist.
Unter dem Vorwand der Freiheit erhöht Hirtler den geistlichen Druck „richtig“ glauben zu müssen erheblich. Dann würden alle Probleme verschwinden und jeder würde schon bald zu einem Wundertäter und Propheten. Das allerdings wurde weder von den Aposteln so versprochen noch entspricht es der Erfahrung von Christen; zumindest wenn sie ehrlich sind und sich nicht schon in einen frommen Wahn gesteigert haben, bei dem nur noch wahr sein darf, was wahr sein soll. Daraus wachen manche erst dann auf, wenn sie ihr Leben an die Wand gefahren haben oder an einer schweren Krankheit sterben, obwohl sie das eigentlich für unmöglich hielten. Dann aber hört in ihrer Gemeinde auch keiner mehr auf sie. Im Extremfall wirft man solchen Christen tragischer Weise nur noch dogmatisch vor, sie würden zu wenig glauben.
Obwohl viel von Gott und dem Heiligen Geist geredet wird, steht bei Reinhard Hirtlers Konzeption christlichen Lebens eigentlich der Mensch im Vordergrund. Im Kern geht es darum, ein spannendes Leben zu führen, voller Wunder, Zeichen, Erlebnisse, ohne jede Krankheit und jeden Mangel. Das ist allerdings der Wunsch von fast jedem postmodernen Menschen. In diesem Fall verbindet sich die eigene Sehnsucht nach Bedeutung und Erlebnissen noch mit einer vorgeblich göttlichen Garantie. Gott wird bei Hirtler letztendlich zum Dienstleister für den religiösen Menschen. Er erwartet nichts und ist ständig bereit, für das Wohl des Christen zu sorgen und ihm die Wünsche von den Augen abzulesen. Jeder träumt dann davon, ohne größere Anstrengungen ein perfektes Leben zu führen, von Krankheiten generell verschont zu bleiben, Wunder am laufenden Band zu erfahren, aufzutreten wie Paulus und Petrus; nur natürlich ohne deren Verfolgung und häufiges Leiden.
Ein wesentlicher Schönheitsfehler an diesem Entwurf des Christseins ist allerdings die fehlende Übereinstimmung mit den Ankündigungen Jesu und der Apostel. Nur wenn man wesentliche Aspekte ihrer Predigten streicht, dann bleibt lediglich der Teil übrig, den man sehnlichst zu hören wünscht. Dieses Zusammenstreichen biblischer Aussagen aber ist eine Verfälschung der Botschaft Jesu. Weit mehr als sich das mancher Anhänger Hirtlers wahrscheinlich bewusst ist, folgt man hier dem momentanen Zeitgeist von Esoterik und Selbstverwirklichung. Wenn Gott etwas anderes sagen oder auf Sünde hinweisen will, dann weigert man sich strikt, darauf zu hören oder verwirft diese Gedanken schnell wieder als vorgebliche Versuchung oder ungeistlichen Zweifel.
In der Realität ist der Christ allerdings nur scheinbar entlastet. Ihm wird von Hirtler versprochen, er müsse um nichts mehr in seinem geistlichen Leben ringen, weil er ja längst schon alles von Gott geschenkt bekommen habe. Das hört sich erst einmal natürlich sehr gut und einfach an. Dann erlebt der Christ aber schon bald, dass er trotzdem noch krank wird oder eigensüchtig handelt. Deshalb muss er nach Hirtler jetzt daran arbeiten, mehr oder richtiger zu glauben. Der von Hirtler kritisierte geistliche Krampf verlagert sich also nur, vom Bemühen ehrlich und geistlich zu leben zum Stimulierung einer Überzeugung, dass alles ganz anders ist als äußerlich erlebt, dass man eigentlich gesund und erfolgreich sein könnte obwohl man sich krank fühlt.
Am Ende ist Hirtlers Konzept des uminterpretierten „neuen Bundes“ ein Hohn für alle leidenden Christen. Sie sind nicht nur krank, obwohl sie sich bemühen an ihre Gesundheit zu glauben. Ihnen wird jetzt auch noch die Schuld für ihren Zustand zugeschoben. Würden sie nämlich im Sinne Hirtlers glauben, wäre sie demnach schon lange gesund. Das zahlreich im Neuen Testament angekündigte Leiden der Christen wird bei Hirtler weitgehend ignoriert, weil so etwas unangenehm ist und nicht in sein Glaubenssystem passt.
Natürlich spielt der Glaube im Verhältnis des Christen zu seinem himmlischen Vater eine große Rolle. Glauben ist hier allerdings das vollkommene Vertrauen auf Gott und darauf, dass er immer das Beste macht und nur das Beste mit seinem Kind im Sinn hat, auch wenn sich das nicht immer so anfühlen mag. Was für den Menschen aber jeweils das Beste ist, das weiß eben vor allem Gott und nicht der Mensch. Für manchen sind Leiden und Verlust in bestimmten Lebenssituationen weit besser als Gesundheit und Wohlstand, auch wenn sich niemand freiwillig das Leiden aussuchen würde. Die Eigenschaften, die Gott im Christen fördern will, werden nicht immer durch ein angenehmes Leben voller Wunder und Abenteuer erreicht. „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit […]. Die aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Begierden. Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.“ (Gal 5, 22-25)
Glaube ist nicht das beständige Einbilden dessen, was sich ein Christ sehnlichst wüscht. Biblisch zu glauben heißt einfach sich Gott zur Verfügung zu stellen und alles von ihm zu erwarten, nicht aber vorher schon zu bestimmen versuchen, was Gott dann zu tun hat. Wer Gott wirklich glaubt / vertraut, will sich auch nicht mehr aussuchen, ob er als Wundertäter oder als Tellerwäscher von Gott gebraucht wird. Hinter diesen Wünschen stehen sehr häufig nur fromm verbrämte Selbstverwirklichung und Eigensucht. Wer Gott wirklich vertraut, der ist bereit, alles anzunehmen, wozu Gott ihn gebrauchen will. Bei Mühe und Anstrengung beginnt er nicht gleich zu stöhnen oder aufzugeben.
Auch wenn das zweifellos mühsam klingt und auch mühsam ist, in der Bibel erreicht der Christ das für ihn von Gott gesetzte Ziel nicht, indem er einfach nur sitzt und glaubt. Die von Gott geschenkte Veränderung und Erneuerung ist ein Prozess, an dem der Christ aktiv beteiligt ist, der erst in der Ewigkeit bei Gott abgeschlossen sein wird, nicht in wenigen Minuten mit einem intensiven Glauben.
In fast jedem Brief des Neuen Testaments finden sich Aufforderungen zu einem gottgefälligen Leben und zur praktischen Veränderung. Das wird von Hirtler weitgehend ignoriert, weil er sich lieber auf die Aussagen konzentriert, dass scheinbar schon alles in Ordnung ist, dass man nur noch daran glauben müsse, dann würde sich plötzlich alles wie von selbst verändern.
Tatsächlich wird im Neuen Testament nicht nur aufgefordert, die vielen guten Gaben Gottes im Glauben zu genießen. In der Bibel werden Christen ermahnt zu kämpfen, weil sie ständig den Angriffen des Teufels und der Sünde ausgesetzt sind. „Seid nüchtern und wachsam! Euer Todfeind, der Teufel, streicht wie ein brüllender Löwe herum und sucht nach einem Opfer, das er verschlingen kann. Dem müsst ihr im festen Glauben widerstehen! Dabei sollt ihr wissen, dass eure Geschwister in der ganzen Welt die gleichen Leiden durchmachen.“ (1Petr 5, 8+9)
Gläubige werden in der Bibel immer wieder aufgefordert, ihr Leben zu verändern und nach dem Willen Gottes umzugestalten und das, obwohl sie Glauben haben. „Und weil ihr jetzt vom Gehorsam bestimmt seid, lasst euch nicht mehr von den Begierden beherrschen, wie ihr das früher getan habt, als ihr noch unwissend wart. Im Gegenteil: Euer Leben soll jetzt ganz von dem heiligen Gott geprägt sein, der euch berufen hat.“ (1Petr 1, 14+15)
In der Bibel werden gläubige Christen ermahnt und sollen stellenweise sogar unter Gemeindezucht gestellt werden, wenn sie ihr Leben nicht nach den Maßstäben Gottes gestalten. „Und im Namen unseres Herrn Jesus Christus ordnen wir an: Zieht euch von jedem Bruder zurück, der unordentlich lebt und sich nicht an das hält, was wir bei euch gelehrt und weitergegeben haben.“ (2Thess 3, 6)
(von Michael Kotsch)
Eine Antwort auf „Reinhard Hirtler – Der „neue Bund““
Danke für diese sehr speziellen Erläuterungen für die „hyperfromme“ Szene, die ja überall blüht. Es fällt oft nicht leicht, die Kernpunkte der Irreführungen klar zu erkennen, weil sich oft auf angeblich Biblische Aussagen berufen wird, die aber falsch ausgelegt sind. Darum ist mir solch eine kompetente Beurteilung sehr wichtig.