Auf der einen Seite ist die Bibel ziemlich einfach. Darin finden sich anschauliche Lebensgeschichten von Menschen und ihrer Begegnung mit Gott. Viele geistliche Wahrheiten werden in eindrücklichen Bildern und Beispielen beschrieben, den sogenannten Gleichnissen. Gemessen an den wichtigen Themen der Bibel ist die Sprache zumeist recht allgemeinverständlich. Es gibt allerdings auch schwer zugängliche Teile. Dazu gehören beispielsweise manche sehr interpretationsbedürftige Aussagen der Propheten oder die manchmal endlosen Sätze des Apostel Paulus, die dann auch noch mit vielen theologischen Fachbegriffen gespickt sind. Gerade solche Aussagen können manchmal davon abhalten in der Bibel zu lesen oder sie laden ein zu abenteuerlichen Spekulationen.
Um die Bibel noch besser verstehen zu können und um problematische Missverständnisse zu minimieren, ist es hilfreich einsichtige Regeln für die Auslegung der Bibel zu berücksichtigen. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Hermeneutik. Damit bezeichnen sie die Wissenschaft der richtigen Interpretation. Beim Bibellesen geht es eben nicht nur um die Gedanken, die einem gerade durch den Kopf schießen, wenn man sich einen bestimmten Text näher anschaut. Viel zu sehr ist man zumeist von der eigenen Umwelt und ihrem Denken beeinflusst. Ziemlich schnell kann man die Bibel dann durch diese zeitgeprägte Brille missinterpretierten.
- Zuerst darf man nicht vergessen, dass die Bibel ursprünglich nicht in Deutsch verfasst wurde, sondern vor allem in Hebräisch, was das Altes Testament betrifft, und in Griechisch, für das Neue Testament. Das waren die Sprachen, die das damalige Zielpublikum verstand, die Juden und die Bewohner des östlichen Mittelmeerraums. Wer einmal eine Fremdsprache gelernt hat, der weiß, dass man einen Satz nicht einfach buchstäblich übersetzen kann, ohne dass sich die ursprüngliche Aussage dabei auch etwas verändert. Für jeden, der tiefer ins Bibelstudium einsteigt, ist es deshalb eine Hilfe, zumindest ein bisschen Hebräisch bzw. Griechisch zu lernen, um bei schwierigen Formulierungen prüfen zu können, was an der betreffenden Stelle im Original stand. Natürlich können hier auch theologische Kommentare mit entsprechenden sprachlichen Hinweisen eine große Hilfe sein.
- Aus den alltäglichen Gesprächen kennt das auch jeder. Man kann einen einzelnen Satz aus einer längeren Unterhaltung herausnehmen und dadurch schwer verfälschen. Nur im Zusammenhang wird häufig klar, was die Person eigentlich sagen wollte. Dieses Prinzip gilt auch für die Bibel. Mit einzelnen, aus ihrem Zusammenhang gelösten Sätzen oder Worten, können theologische Spekulanten und Sektierer alles Mögliche behaupten. Manchmal klingt das auf den ersten Blick sogar noch ganz plausibel. Liest man den Text dann aber im größeren Zusammenhang kann es sogar sein, dass der Autor das genaue Gegenteil sagen wollte und in der betreffenden Aussagen lediglich die Position seiner Gegner wiedergibt.
- In der Bibel geht es um schwergewichtige Themen, um die Frage nach dem Ursprung der Welt und der Existenz Gottes, es geht um das richtige Verhalten, das Problem der Schuld, gelingende Beziehungen und vieles anderes mehr. Solche Dinge lassen sich nicht immer ganz kurz und knapp behandeln. Deshalb widmen sich viele Autoren der Bibel nur einem Teilproblem oder nur einem Aspekt eines viel umfassenderen Themas. Um richtig einordnen zu können, was in der Bibel wirklich gesagt wird, ist es deshalb notwendig die verschiedenen Aussagen zu einem Thema zusammen zu lesen, miteinander zu vergleichen. Das heißt beim Bibellesen sollte man auf sogenannte Parallelstellen achten, andere Abschnitte der Bibel, die sich mit demselben Thema beschäftigen. In vielen Bibelausgaben sind diese Stellen hilfreicherweise auch immer irgendwo am Rande einer Seite vermerkt.
- Viele Bibelleser bevorzugen das Neue Testament. Hier liest man von Jesus, von den Aposteln, der christlichen Gemeinde, von Liebe und Vergebung. Das Alte Testament mit seinen vielen Kriegen und Geboten wirkt da deutlich fremder. Es scheint sich vor allem an das Volk Israel zu wenden. Höchstens noch die lyrischen Psalmen und die markigen Sprüche wirken da für den heutigen Leser attraktiv. Aber darum darf es natürlich nicht gehen. Immerhin beziehen sich Jesus und auch die anderen Autoren des Neuen Testaments ziemlich häufig auf das Alte. Hier hatte Gott vorbereitet, was sich durch die Wirksamkeit Jesu erfüllte. Allerdings muss man schon aufpassen, wenn man im Alten Testament liest, um nichts falsch zu verstehen. Dann tatsächlich richten sich manche Forderungen, wie die Beschneidung oder der Tempeldienst ausschließlich an das Volk Israel und nicht an den heutigen Bibelleser. Andere Aussagen und Forderungen sind durch Jesu erfüllt worden und deshalb nicht mehr relevant als Regeln für die christliche Gemeinde. Viele Aussagen des Alten Testaments aber gelten aus Gottes Sicht für alle Zeiten, also auch für heute.
- Wenn man von einer Sprache oder einer Zeit in eine andere wechselt, dann kann es gerade bei Redewendungen und Wortbildern sehr schnell zu Irritationen kommen. Wenn man im Deutschen ganz selbstverständlich davon spricht, sein „Geschäft zu erledigen“ oder da zu wohnen, „wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen“, kann das vollkommen unverständlich werden, wenn man diese Aussagen wörtlich in eine andere Sprache übersetzt. Redewendungen und Stilelemente gibt es auch in der Bibel. Um sie richtig zu verstehen, muss man gelegentlich nachforschen, was mit Ausdrücken wie „er ging, um seine Füße zu bedecken“ wirklich gemeint ist.
- Ebenfalls Probleme können auftreten, wenn man den historischen Hintergrund unberücksichtigt lässt, vor dem jeder biblische Text verfasst wurde. Langjährige Bibelleser merken manchmal schon gar nicht mehr, wie selbstverständlich sie in vielen Fällen Informationen aus einer Jahrtausende zurückliegenden Zeit heranziehen, wenn sie sich mit dem Wort Gottes beschäftigen. Das beginnt schon damit, dass viele Städte und Länder, die in der Bibel erwähnt werden, heute nicht mehr existieren oder ganz anders benannt werden. Es gibt heute eben keine Babylonier mehr und auch die heutigen Ägypter haben mit ihren Vorfahren vor 3000 Jahren kaum mehr etwas zu tun. Den Begriff „Pharisäer“ benutzen Menschen heute zwar noch immer. Sie meinen damit aber zumeist etwas anderes als die religiös- politische Partei aus der Zeit Jesu. Aber auch viele in der Bibel beschriebene Handlungen sind an historische Entwicklungen gebunden, an das Leben der Beduinen, die politische Realität vor Jahrtausenden oder Berufe wie Hirte und Priester, die heute so kaum mehr ausgeübt werden.
- Richtig herausfordernd wird es, wenn man beim Bibellesen die damalige und die heutige Kultur korrekt berücksichtigen will, von der der Bibeltext und auch der heutige Leser bisweilen beeinflusst werden. Wenn Jesus in seinen Gleichnissen beispielsweise vom Hausbau oder von einer Hochzeit spricht, dann sah das damals eben ganz anders aus, als es heute praktiziert wird. Besonders schwierig wird die Frage der Kultur bei biblischen Handlungsanweisungen. Gelten die eins zu eins für alle Zeiten oder verbirgt sich hinter den Aussagen nur ein allgemeingültiges Prinzip? Wenn es um den richtigen Umgang mit Sklaven geht, deuten die meisten heutigen Bibelleser, das auf prinzipielle Forderungen zum Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wie steht es aber mit den Forderungen zur Unterordnung in der Ehe oder dem Lehrverbot für Frauen? Viele Theologen tendieren heute dazu, auch das nur als kulturabhängig zu interpretieren. Bei genauerer Betrachtung aber fällt auf, dass Paulus sich mit seinen Forderungen von der damaligen Kultur deutlich abgrenzt und sich dabei auch noch auf die dauerhaft gültige Schöpfungsordnung Gottes beruft. Die zuverlässige Zuordnung der Kultur bestimmt häufig über die konkrete Anwendung eines Bibeltestes für heute. Mancher unterschätzte die Bedeutung der früheren Kultur. Mancher ist sich nicht bewusst, wie stark er selbst von seiner eigenen, heutigen Kultur im Denken bestimmt wird.
- Gerade die Wunder der Bibel finden manche besonders faszinierend und überzeugend. Für andere sind die Wunder ein Ärgernis, weil sie eindeutige Wunder heute nicht oder nur selten auf diese Weise erleben. Viele Theologen gehen deshalb daran, biblische Wunder rationalistisch wegzuerklären. Entweder handele es sich dabei nur um nicht wirklich historisch ernst gemeinte Bilder oder um Ereignisse, die die Menschen früherer Generationen halt noch nicht genau verstehen können, die uns mit Hilfe der heutigen Naturwissenschaft aber vollkommen erklärlich sind. Jesus habe dann halt nicht wirklich Wunder getan, sondern Menschen nur medizinische behandelt oder die ihm bekannten Naturkräfte für seine Zwecke benutzt. Beispielsweise sei er nicht auf dem Wasser gegangen, sondern auf den Steinen im Wasser. Solche Interpretationen befriedigen vielleicht den materialistisch orientierten Verstand, sie entkräften dabei aber auch die zentralen Aussagen der Bibel. Die Realität der übernatürlichen Eingriffe Gottes beglaubigen in der Bibel die von ihm beauftragten Boten und auch Jesus, den lange angekündigten Messias. Im Kern ist Gott eben übernatürlich und verfügt offensichtlich über Macht und Fähigkeiten, die alle naturwissenschaftlichen Erklärungen sprengen. Außerdem sollte auch jeder kritische Denker eingestehen, dass eben nicht alle Aspekte der Wirklichkeit allein mit den Konzepten heutiger Wissenschaft erklärbar sind.
- Ganz gleich wie gründlich man sich auch bemüht die Bibel zu verstehen, nie darf man dabei vergessen, dass man selbst nur ein ziemlich begrenzter Mensch ist. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der Wahrheit und Irrtumslosigkeit der Offenbarung Gottes auf der einen und unserem Verständnis dieser Offenbarung auf der anderen Seite. Manchmal gibt es auch unterschiedliche, durchaus bibeltreue Möglichkeiten eine Aussage der Bibel zu verstehen. Nur wer sich seiner eigenen Grenzen immer bewusst ist, bleibt offen für wachsende Erkenntnis und schützt sich vor Einbildung und Hochmut.
Wer sich nun noch etwas genauer mit der Hermeneutik, das heißt mit den Grundprinzipien einer angemessenen Interpretation der Bibel beschäftigen will, dem empfehle ich unter anderem das von mir herausgegebene Büchlein „ Go(o)d News 2. Die Bibel verstehen und auslegen“, erschienen in der Christlichen Verlagsgesellschaft Dillenburg.
(von Michael Kotsch)