Vertreter einer flachen Erde sind häufig auch davon überzeugt, dass sich die Sonne um die Erde dreht und wollen das unter anderem mit entsprechenden Bibelversen belegen. Die Beschreibung einer sich bewegenden Sonne bezieht sich gewöhnlich aber auf die subjektive Beobachtung des auf der Erde lebenden Menschen und nicht unbedingt auf den absoluten Stillstand der Erde: „Die Sonne geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held, zu laufen die Bahn. Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis an sein Ende, und nichts bleibt vor ihrer Glut verborgen.“ (Ps 19, 6 +7) In diesem Bibelvers geht es kaum um eine astronomisch korrekte Beschreibung der Beziehung zwischen Erde und Sonne. Es soll nicht wirklich behauptet werden, dass sich die Sonne während der Nacht in einem Haus aufhält oder, dass sie auf Beinen läuft, oder dass wirklich nichts dem Sonnenschein entgehen könnte, wie beispielsweise in einer Höhle oder in der Tiefsee.
An einigen Stellen spricht die Bibel auch von einer Verdunkelung der Sonne. Bei der Kreuzigung Jesu beispielsweise wird von einer Sonnenfinsternis gesprochen (Lk 23, 45). An keiner Stelle wird aber ernsthaft behauptet, Gott habe die Sonne zu diesem Anlass zeitweilig ausgeschaltet. In anderen Regionen der Welt war die Sonne zeitgleich nämlich noch gut zu sehen. Irgendwie hatte Gott zur Zeit des Todes Jesu für die Menschen in Judäa die Sonne verdunkelt; vielleicht durch dicke Wolken, durch eine Verdeckung der Sonne vom Mond oder durch zeitweilige Blindheit der Bevölkerung. Beschrieben wird hier nicht die absolute Abdunkelung der Sonne, sondern ihre mangelnde Sichtbarkeit zu dieser Zeit an dieser Stelle der Erde. Es geht also um das, was die Menschen an diesem Ort sahen bzw. nicht sehen konnten, nicht um die tatsächliche Helligkeit der Sonne zu diesem Zeitpunkt. Ähnlich ist das auch in Offb. 6, 12, wo die Sonne mit einem Mal schwarz wird oder in Offb. 9, 2, wo von der Verdunkelung der Sonne durch Rauch gesprochen wird. Gemeint ist damit natürlich immer die Sicht des irdischen Beobachters. Ob die Sonne während dieser Zeit auf der ganzen Erde oder sogar im Weltraum wirklich dunkler geworden ist, wird hier nicht besprochen.
Der mehrfach in der Bibel vorkommende Ausdruck „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ muss wohl ähnlich eingeordnet werden. Die irdischen Beobachter schreiben auf, was sie und auch ihre Leser sehen können: die Sonne steigt morgens am östlichen Himmel auf und versinkt abends im Westen. An vielen Stellen bezieht sich diese Redewendung allerdings gar nicht so sehr die beobachtete Bewegung der Sonne, sondern auf eine poetische Beschreibung der ganzen Welt (Jes 59, 19; Mal 1, 11). Gemeint ist damit dann so viel wie: „Überall wo die Sonne scheint“. An anderen Stellen wird mit diesem Ausdruck der Verlauf des ganzen Tages umschrieben; im Sinne von: „Solange die Sonne scheint.“ (Ps 113, 3)
Auch bei der Beschreibung der Schlacht Israels gegen die Amoriter kann auf den ersten Blick ein falscher Eindruck entstehen. Weil sich so schnell kein Ende der Schlacht abzeichnete, bat Josua Gott darum, die Sonne und den Mond zeitweilig „stillstehen“ zu lassen (Jos 10, 12-14). Auch wenn Gott prinzipiell natürlich alles möglich ist, würde ein solches plötzliches Außerkraftsetzen der Erddrehung oder der mutmaßlichen Abbremsung der Sonne allerlei naturgesetzliche Komplikationen mit sich bringen. Naheliegender ist es wahrscheinlich von einer irgendwie bewerkstelligten Verlängerung des Tages auszugehen, wie es der Bibeltext auch angibt. Es blieb hell und wirkte für die Israeliten als sei die Sonne stehengeblieben. Die unbekannten astronomischen Details dieses Wunders sollen im Bibeltext keine Grundlage für eine neue Lehre über den Aufbau des Universums liefern. Zumal es sich hier weltgeschichtlich um ein absolut einzigartiges Ereignis handelte. Josua brauchte einfach eine längere Phase Tageslicht, um seine Schlacht erfolgreich zuende führen zu können. Auf welche Weise Gott das bewerkstelligte war ihm weitgehend gleich. Prinzipiell gilt für den Christen natürlich: „Du, Gott, hast Himmel und Erde gemacht durch deine große Kraft und durch deinen ausgereckten Arm, und es ist kein Ding vor dir unmöglich.“ (Jer 32, 17)
(von Michael Kotsch)