Um den christlichen Glauben als rückständig und lächerlich darzustellen wurde erst ab Mitte des 19.Jahrhunderts der mittelalterlichen Kirche unterstellt, an eine flache Erde geglaubt zu haben, wie Prof. Jeffrey Burton Russell von der University of California nachweisen konnte. Rationalisten und Atheisten schufen diesen Mythos, der sich selbst in Schulbüchern teilweise bis in die Gegenwart festgesetzt hat. Tatsächlich finden sich aus der mesopotamischen und frühgriechischen Umwelt des Alten Testaments Hinweise auf eine verbreitete Vorstellung der Erde als flache Scheibe. Interessanterweise wurde dieses Konzept in der Bibel allerdings nicht übernommen. Zwar ließen sich einige poetische Äußerungen durchaus in eine solche Richtung interpretieren. Andererseits gibt es aber auch Passagen, die von einer kugelförmigen Erde auszugehen scheinen. In Jesaja 40,22 beispielsweise heißt es: „Gott ist es, der da thront über dem Kreise der Erde, …“. Das hebräische Wort גוח (chug), das hier mit „Kreis“ wiedergegeben wird, kann jedoch auch „Kugel“ bedeuten. Insgesamt findet sich in der Bibel aber keine detaillierte Beschreibung der Gestalt der Erde oder ihres Verhältnisses zur Sonne und den anderen Planten. Wahrscheinlich auch deshalb orientierten sich die meisten christlichen Forscher in der Vergangenheit nicht so sehr an Bibelversen, sondern an ihren Beobachtungen und Berechnungen.
Bei Homer (850 v.Chr.) wird die Welt noch als eine vom Ur-Ozean umflossene Scheibe beschrieben. Bereits Pythagoras (570-510 v.Chr.) und Plato (428-348 v.Chr.) gingen fest von einer kugelförmigen Erde aus. Der wegen seiner umfassenden Forschungen bis ins Mittelalter hinein geschätzte Aristoteles (384-322 v.Chr.) betrachte aus folgenden Gründen eine kugelförmige Erde als bewiesen: 1. Alle Himmelskörper seien auf die Erde als Mittelpunkt des Universums ausgerichtet. Das funktioniere nur, wenn die Oberfläche der Erde in alle Richtungen gleichzeitig weise. 2. In südlichen Ländern stehen die südlichen Sternbilder höher über dem Horizont, als in nördlicheren. Folglich muss die Erde gekrümmt sein. 3. Der Erdschatten bei einer Mondfinsternis ist immer rund. Aus dem unterschiedlichen Einfallswinkel der Sonne zur Zeit der Sommersonnenwende berechnete Eratosthenes von Kyrene (276-194 v.Chr.) ziemlich exakt den mutmaßlichen Erdumfang. Plinius der Ältere (23-79) war fest von der Kugelform der Erde überzeugt. Seine 37bändige Naturkunde (Naturalis historia) wurde bis ins Mittelalter hinein als Standardwerk der Wissenschaften betrachtet. Auch der hochgeachtete Claudius Ptolemäus (100-160) vertrat die Auffassung einer runden Erde, die sich im Zentrum des Universums befinden müsse.
Einige wenige Kirchenlehrer kritisierten in der Folge die Vorstellung einer runden Erde; unter anderem Lactantius (250-320), Kyrill von Jerusalem (313–386) und Johannes Chrysostomos (349–407). Überwiegend jedoch waren die mittelalterlichen Theologen und christlichen Naturforscher von der Kugelgestalt der Erde überzeugt.
In seinem Werk De natura rerum (Über die Natur der Dinge) beschreibt der im Mittelalter vielgelesene Isidor von Sevilla (570 – 636) die Erde als „Kugel“ oder „Ball“. In dem ebenfalls weit verbreiteten De natura rerum von Beda Venerabilis (672–735) findet sich eine ganz ähnliche Beschreibung des Planeten.
Thomas von Aquin (1225–1274), der wohl einflussreichste Kirchenlehrer des Mittelalters, schreibt in seiner Summa theologica: „Der Sternenkundige beweist durch die Sonnen- und Mondfinsternis, dass die Erde rund ist.“ Auch zahlreiche andere, hochgeachtete Kirchenlehrer beschrieben die Erde ganz selbstverständlich als Kugel; beispielsweise Augustinus (354-430), Petrus Abaelard (1079-1142), Albertus Magnus (1200-1280) und Roger Bacon (1220-1292).
Der kostbare Reichsapfel, ein wichtiges Herrschaftszeichen der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation war rund und wurde von einem Kreuz gekrönt. Er sollte die Erde darstellen, die unter der Herrschaft Jesu Christi steht. Auch hier ging man wie selbstverständlich von einer runden Erdkugel aus. Als Christoph Kolumbus (1451-1506) per Schiff den Seeweg nach Indien suchte, war er, wie auch die meisten seiner Zeitgenossen, von einer runden Erde überzeugt. Anderenfalls wäre sein Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteiltgewesen. Unsicherheiten gab es später nicht wegen der Form der Erde, sondern vor allem wegen ihres bis dahin unbekannten Umfangs und wegen wochenlanger Fahrten über das offene Meer. Auch für die nur wenig später lebenden Weltumsegler Ferdinand Magellan (1519–1522) und Francis Drake (1577–1580) stand die Kugelgestalt der Erde außer Frage.
In den USA war es insbesondere die 1956 gegründet Flat Earth Society, die wesentlich zur Popularisierung der Theorie einer flachen Erde beigetragen hat. Vor allem in den vergangenen 20 Jahren wuchs deren Anhängerschaft auch in Südamerika und Europa vor dem Hintergrund einer zunehmenden Skepsis dem Staat, den etablierten Medien und der anerkannten Wissenschaft gegenüber. Umfragen zufolge sympathisieren in den USA und in einigen südamerikanischen Ländern gegenwärtig etwa 7% der Bevölkerung mit der Idee einer „flachen Erde“. Besonders viele Anhänger verstehen sich als Christen und meinen aufgrund bestimmter Bibelstellen eine kugelförmige Erde ablehnen zu müssen. Sehr zum Schaden der Schöpfungslehre werden von großen Medien flache Erde, evangelikale Christen und wissenschaftliche Skepsis der Evolution gegenüber vorschnell in einen Topf geworfen. Gelegentlich fördern atheistische Vereinigungen die Thesen der flachen Erde sogar, um sich dann noch besser über evangelikale Ansichten lustig machen zu können.
Auch wenn es in dieser Darstellung vor allem um biblische Aussagen geht, die gerne von Anhängern einer flachen Erde zur Untermauerung ihrer Theorie benutzt werden, sollen hier thesenhaft weitere Aspekte der Diskussion genannt werden: 1. Der seriöse Umgang mit wissenschaftlichen Argumenten, die eine kugelförmige Erde belegen, lässt bei den Anhängern einer flachen Erde oftmals sehr zu wünschen übrig. 2. Einfache Beobachtungen, wie das langsam am Horizont verschwindende Schiff oder der regional deutlich unterschiedliche Blick auf die Sternbilder, werden von Vertretern einer „flachen Erde“ gewöhnlich nur sehr unzureichend aufgenommen und nicht zufriedenstellend erklärt. 3. Der eigentliche Zweck einer gigantischen Verschwörung gegen die mutmaßlich „flache Erde“ konnte bisher nie wirklich plausibel gemacht werden. Offensichtlich profitiert auch niemand vom mutmaßlich gefälschten „Weltbild einer runden Erde“. 4. Eine gigantische Verschwörung, die auch alle privaten Satellitenbetreiber, Schiffsbesatzungen, Flugzeugcrews usw. umfassen müsste, weil diese täglich die Erde umkreisen und umfahren, ist äußerst unwahrscheinlich. 5. Der öffentlich Schaden für die Glaubwürdigkeit evangelikaler Christen und der Bibel ist infolge der Flache- Erde- Theorie schwerwiegend. – Wer die Bibel wirklich ernstnimmt, sollte immer auch die Grenzen biblischer Aussagen im Blick behalten. Gott informiert in der Bibel über sich, über den Sinn und das Ziel der Geschichte, sowie über die Beziehung der Menschen zu ihm. Sehr viele, durchaus berechtigte Fragen aber werden in der Bibel nicht direkt angesprochen und sollten deshalb besser auch nicht in sie hineingelesen werden.
(von Michael Kotsch)