Es ist zweifellos eine besondere Leistung, wenn man Menschen dazu bewegen kann, sich selbst und ihren eigenen Interessen zurückzustellen und sich um die Probleme anderer zu kümmern. Zumeist braucht man dazu eine erheblich Überzeugungskraft und viel Glaubwürdigkeit. Dann aber verändern solche Menschen die Welt weit mehr und positiver als die meisten Influencer, Sänger, Schauspieler und Politaktivisten.
Wilhelm Löhe wurde 1808 in Fürth / Bayern geboren. Seine Familie war wohlhabend und allgemein anerkannt. Löhes Vater, ein erfolgreicher Kaufmann und Ratsherr, starb allerdings schon 1816, als der Junge gerade einmal acht Jahre alt war. Dem Sohn blieb er als gemütlich, wohlsollend und klug in Erinnerung. Löhes Mutter Barbara war eine ziemlich gläubige und starke Frau. Sie hatte 13 Kinder geboren, von denen nur sechs das Erwachsenenalter erreichten. Mutter Löhe pflegte ihre Beziehung zu Gott, betete regelmäßig mit ihren Kindern und las ihnen aus der Bibel vor. In ihrem Sohn Wilhelm weckte sie den Wunsch später einmal Pfarrer zu werden. Im Rückblick schrieb Löhe: „Wer weiß, ob ich ein Christ geworden wäre, wenn ich nicht Pfarrer geworden wäre.“
Nach dem Besuch der Schule in Fürth und Nürnberg begann Löhe 1826 ein Theologiestudium in Erlangen. Hier beeinflussten ihn vor allem die Begeisterung von Bibel und persönlicher Frömmigkeit des reformierten Professors Christian Krafft (1784-1845). Im Studium beschäftigte sich Löhe auch mit den Entwürfen der lutherischen Orthodoxie und den Schriften der praktisch ausgerichteten Pietisten Spener, Francke und Zinzendorf.
Nach Beendigung seines Studiums bekam Löhe verschiedene Anstellungen als Vikar, unter anderem in Kirchenlamitz (1831-1834) und Nürnberg (1834-1835). Während dieser Zeit wurde er von Gemeindegliedern und Kirchenleitung wegen seiner ernsten und ermahnenden Predigten kritisiert. Manche hatten den Eindruck, dass er zu deutlich und direkt Sünde und die Notwendigkeit der Lebensveränderung ansprach, die Menschen mit Himmel und Hölle in Unruhe versetzte. Einigen erschienen die Ansprachen auch einfach zu gesetzlich. Es gab aber auch viele, die Löhes klare und engagierte Predigten schätzten. Einige, selbst der Bürgermeister und angesehene Kaufleute, kamen bereits um sechs Uhr morgens um an Löhes Früh- Gottesdienst teilzunehmen.
Auch später noch wurde Löhe mit mehr oder weniger gutgemeinter Kritik und entmutigenden Rückschlägen konfrontiert. „Trotz mancher Enttäuschungen […] lohnt es sich seine Hoffnung und sein Vertrauen auf den reichen und gütigen Gott zu setzen. Es lebt noch immer der alte Gott, der die Hungrigen mit seinen Gütern satt macht und die Reichen leer lässt.“
Obwohl Löhe sich sehr wünschte in einer gebildeten Großstadt- Gemeinde zu arbeiten, wurde er nach bestandenem zweiten Examen 1837 ins kleine Neuendettelsau bei Nürnberg berufen. Er aber beschwerte sich nicht, sondern akzeptierte das als Entscheidung Gottes. Im gleichen Jahr heiratete Löhe seine ehemalige Konfirmandin Helene Andrae. Die Ehe scheint recht glücklich verlaufen zu sein. Das Paar hatte vier Kinder. Das ganze Denken und Leben der Familie war wie selbstverständlich vom Glauben geprägt und auf die Zukunft bei Gott ausgerichtet. „Wir sind recht fröhlich. In der erfüllenden Arbeit geht die Zeit schnell vorbei und die selige Ewigkeit kommt heran.“ Helenes früher Tod, nach einer nur sechsjährigen Ehe traf Löhe tief. „Meine Frau hat mein ganzes Lebensglück mit ins Grab genommen.“ Jedes Jahr beging er ihren Todestag und hoffte auf ein baldiges Wiedersehen im Himmel. „Der Herr vereinige mich und meine Kinder mit ihr vor einem Thron ewiglich.“ Noch Jahre später trauerte er über den Verlust seiner Frau und weigerte sich erneut zu heiraten.
Gerade am Anfang seiner Tätigkeit in Neuendettelsau erlebte Löhe einen geistlichen Aufbruch bei vielen seiner Gemeindeglieder. Später sprach er von einer regelrechten Erweckung. Viele entschieden sich neu und konsequent ein Leben mit Gott zu führen. Sünden wurden bekannt und schlechte Gewohnheiten verändert. Da Löhe wusste, dass solche Aufbrüche auch schnell wieder abflauen konnten, konzentrierte er sich auf die biblische Lehre im Gottesdienst und die Seelsorge. Die persönliche Erweckung sollte in ein stabiles christliches Leben übergehen.
Ab 1841 beschäftigte sich Löhe intensiv mit der Situation der zahlreichen deutschen Auswanderer in den USA. Deshalb schickte er Prediger und Diakonissen nach Amerika und organisierte den Aufbau evangelisch lutherischer Gemeinden, die den Menschen Halt im Glauben und praktische Hilfe bieten sollten. Um dieser Arbeit einen Rahmen zu geben gründete er 1848 die „Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der evangelisch lutherischen Kirche“. 1854 entstand der „Lutherische Verein für weibliche Diakonie“ und die Diakonissenanstalt Neuendettelsau. 1868 waren bereits 166 Frauen in der Diakonissenanstalt beschäftigt, einige von ihnen wurden auch in andere Orte ausgesandt.
Am Ende seines Lebens waren 25 Jahrgänge mit Löhes Predigten veröffentlicht. Der Pfarrer nahm die Vorbereitung auf seine sonntäglichen Ansprachen äußerst ernst. „Meine Predigten muss ich mit Schmerzen gebären. Von Montag bis Sonntag arbeite ich ab fünf Uhr morgens daran. Ich bete und ringe um die beste Formulierung, bis ich auf der Kanzel stehe. Und dann erlebe ich immer wieder Gottes Gnade beim Vortragen. […] Alle Wiederholungen strich ich aus. […] Mir kam es auf jedes Wort an.“ Löhes damalige Zuhörer und Leser waren zumeist begeistert von den tiefsinnigen, gut formulierten und treffenden Ansprachen, die sowohl motivierten als auch herausforderten. Seine Schriften wurden sowohl von einfachen Christen gelesen, als auch von Gebildeten.
Jeden Sonntag war Löhe gewöhnlich für drei Gottesdienste an verschiedenen Orten zuständig. Ihm war es wichtig die Veranstaltungen würdig und feierlich zu gestalten. Deshalb entwarf er 1844 die Agende für christliche Gemeinden lutherischen Bekenntnisses. Zum Gottesdienst gehörten für ihn Gebete, Lieder, Textlesungen und natürlich die Predigt. Dabei griff Löhe auch gerne auf die reichhaltigen Schätze der Vergangenheit zurück. Gottesdienstliche überlieferte Formen waren für Löhe nicht generell abzulehnen. „Das hat man zur Zeit der Reformation wohl erkannt. Man hat deshalb die überlieferten, uralten und schönen Formen nicht einfach abgeschafft, sondern von Sünde und Missbrauch gereinigt.“ Löhe entwarf eine reichhaltige, an Erfahrungen der Reformation orientierte Gottesdienstordnung. Dazu gehörten vielfältiger Gesang und Gebet. „Die Kirche ist nicht bloß eine lernende, sondern auch eine betende. Sie betet nicht nur in ihren privaten Wohnungen, sondern auch in der großen Gruppe in ihren Gemeinschaftshäusern. Sie betet sprechend, sie betet singend an.“
„Ich freue mich über die Menge schöner, unnachahmlicher Lieder, die seit dreihundert Jahren Gott zu Ehre und Preis gesungen werden.“ Löhe verwendete auch passende vorformulierte Gebete, die ihm manchmal besser erschienen als frei gesprochene mit weit weniger Gehalt. Obwohl er selbst nichts ehr gut singen konnte, setzte er sich für den seit vielen Jahrhunderten üblichen Psalmengesang ein. Regelmäßig sollten mit der ganzen Gemeinde alle biblischen Psalmen gesungen werden, um die Menschen im Glauben zu stärken und Gott mit seinen eigenen Worten zu loben.
Seiner Gemeinde und vielen anderen Hilfesuchenden blieb Löhe als einfühlsamer und bibelorientierter Seelsorger in Erinnerung. Er kannte die Schwächen der Menschen und ließ sich durch ausweichende Worte selten täuschen. Gleichzeitig fühlte er mit den Menschen und vermied Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Löhe lag aber auch daran, Schuld und Versagen offen anzusprechen und seine Klienten zu Einsicht und Umkehr zu bewegen. Immer wieder hatte er die Erfahrung gemacht, wie Vergebung befreien und der Geist Gottes Menschen verändern konnte. Jeden Tag stand Löhe zu seelsorgerlichen Gesprächen bereit. Zur Auferbauung und Stärkung der Christen empfahl er neben Gebet und Bibellesen auch den regelmäßigen Gottesdienstbesuch und die Einnahme des Abendmahls. „Die innerlichste Seelsorge muss von Gott selbst kommen.“
In seiner Gemeinde scheute Löhe notwendige Konflikte nicht. Deutlich sprach er sich gegen die Etablierung kleiner eigenbrötlerischer Gruppen aus, die sich der übrigen Gemeinde überheblich fühlten. Ärger gab es auch, weil Löhe sich wegerte einen Geschieden erneut zu trauen. Ganz allgemein sprach er sich für die Wiedereinführung der Gemeindezucht aus. Christliches Leben sollte sich auch durch eine christliche Lebensführung zeigen, war er überzeugt. Um den Ernst der ethischen Aufforderungen Gottes vor Augen zu führen, müsse man manchmal auch spürbare Konsequenzen ziehen.
Löhe war überzeugter Lutheraner und wehrte sich gegen falsche Kompromisse und eine Vereinigung mit der reformierten Kirche. Abendmahl, Taufe, Seelsorge und Predigt waren für ihn die wichtigsten Mittel zur Förderung des Glaubens und zur Stärkung der Christen in ihrer täglichen Auseinandersetzung mit Sünde und Zeitgeist.
Löhe schrieb drei Bücher von der Kirche. Die Gemeinde war für ihn der entscheidende Ausgangspunkt des Handelns Gottes und des Christenlebens. Individualismus und christliche Werke, wie das Diakonissenhaus sollten deshalb der örtlichen Gemeinde untergeordnet werden.
Schon früh wurden von Löhe junge Frauen zu Krankenschwestern und Sozialarbeiterinnen ausgebildet, um sich mit diesen Qualifikationen in den Gemeinden einzusetzen. Einige Diakonissen gingen in die USA, um den Aufbau lutherischer Kirchen unter den deutschen Auswanderern zu unterstützen. Auch Männer sollten sich nach Löhes Wunsch diakonisch engagieren. Allerdings war der Zulauf zum Brüderhaus deutlich geringer als der bei den Diakonissen.
Diakonie betrachtete Löhe als festen und ursprünglichen Bestandteil christlicher Gemeinde. Gott hatte dazu aufgerufen sich um Kranke, Alte, und aus anderen Gründen hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Dem sollte in besonderer Weise von den Frauen des Diakonissenhauses nachgegangen werden. Davon sollten allerdings nicht nur die Gemeindeglieder profitieren. Löhe warnte auch vor einer Versorgungsmentalität, dass man sich durch die Mitarbeit im Diakonissenhaus oder entsprechende Spenden sozusagen eine spätere Hilfe verdienen könne. Die Arbeit in der Diakonie sollte ohne alle Hintergedanken und Erwartungen zur Ehre Gottes und zum Wohl der Leidenden gemacht werden. Diese Frauen sollten geistlich gesinnte und einsatzbereite Allrounderinnen sein. „Die Füße in Dreck und Staub niedriger Arbeit, die Hände an der Harfe und bei den Menschen, den Kopf im Sonnenlicht der Andacht und Erkenntnis Jesu, so würde ich die ideale Diakonisse malen. […] Sie ist Maria und Martha in einer Person.“
Löhe legten keinen großen Wert auf eine besonders feierliche Einsegnung der Diakonissen. Gottes Segen und der Erfolg der Arbeit würden letztlich nicht davon abhängen. Die Frauen sollten aber gut ausgebildet und begleitet werden. Sie sollten zu selbstständigen und stabilen Persönlichkeiten werden mit einem festen Vertrauen auf Gott und einer ausgeprägten Hoffnung auch in schwierigsten Situationen. Deshalb organisierte Löhe Schulungen, Seelsorge und Supervision für seine Diakonissen.
Diakonie und Mission sollte nach Löhe für alle Christen ganz selbstverständlich sein. Beides müsste aber von der Gemeinde ausgehen und an sie gebunden bleiben, nicht vollkommen unabhängig existieren. Zahlreichen Gemeinden fehlt heute dieser Blick für das Leiden der anderen. „Viele Gemeinden bei uns sind ohne Koinonia (Gemeinschaft), darum sind sie auch ohne Diakonia (Nächstenliebe).“
1846 hatte der mit Löhe befreundete Friedrich Bauer in Nürnberg eine Vorbereitungsanstalt gegründet, an der Missionare ausgebildet wurden. 1853 zog die Anstalt nach Neuendettelsau um. Bis 1913 wurden von hier aus 512 Missionare ausgesandt, vor allem nach Amerika, Australien, Papua-Neuguinea und Brasilien. Aus dieser Initiative ist die heutige EineWelt Missionhervorgegangen.
In den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens hatte Löhe mit verschiedenen Krankheiten zu kämpfen, unter anderem einem schweren Nierenleiden. Das führte bei ihm zu vielen Schmerzen und gelegentlich zu starker Todesangst. Trotzdem hielt er an der Leitung des Diakonissenhauses, dem Pfarramt und der vielfältigen schriftstellerischen Tätigkeit fest. Gerade in seinen letzten Jahren fühlte sich Löhe oft einsam und unverstanden. Alleine rang er mit Krankheit und Anfechtungen. Löhe starb 1872.
Auch nach dem Tod Löhes wuchsen Gemeinde und Diakonissenanstalt weiter. Es entstanden sogar einige Filialen des Diakonissenhauses. In den 1890er Jahren wurden unter Hermann Bezzel (1861-1917) eine Brüderschule und ein Brüderheim für männliche Diakone gegründet. Außerdem wurde das Schulwesen reformiert und ein neues Krankenhaus in Neuendettelsau eröffnet.
Neben mehreren Altenheimen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts noch eine Schule für Lehrerinnenausbildung ins Leben gerufen, eine Höhere Töchterschule und eine soziale Frauenschule. Anfang der 1930er Jahre hatte Neuendettelsau 1300 Diakonissen. In dieser Zeit wurde die Betreuung von Menschen mit Behinderung deutlich ausgebaut. In der Zeit des Nationalsozialismus distanzierten sich die Verantwortlichen in Neuendettelsau nur sehr bedingt von der menschenverachtenden Politik der Machthaber. 1200 Behinderte wurden ausgeliefert und von den Nationalsozialisten als „unwertes Leben“ getötet.
Gegenwärtig gehören zu Neuendettelsau über 200 Einrichtungen mit insgesamt mehr als 10 000 Mitarbeitern. Darunter befinden sich allerdings kaum noch Diakonissen. Generell ist der ehemals im Mittelpunkt stehende, geistlich- theologische Akzent deutlich in den Hintergrund getreten. Seit 2019 nennt sich das Diakonische Werk Neuendettelau offiziell Diakoneo. Es hat den juristischen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. – Das alles geht zurück auf die mutige Gründung des fränkischen Pfarrers Wilhelm Löhe. Unter Fachleuten gilt Löhe als einer der einflussreichsten und am meisten gelesenen Lutheraner des 19.Jahrhundert.
(von Michael Kotsch)