Unter dem Eindruck täglicher Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine und über die politischen Rechtfertigungsversuche des russischen Präsidenten Putin kann schnell vergessen werden, dass es auch noch andere sehr relevante Herausforderungen und Krisen in der Welt gibt. Plötzlich scheint ein Thema alle anderen zu überlagern. Manchmal ist es wirklich erstaunlich, wie schnell bei entsprechender intensiver Berichterstattung der Medien neue Feindbilder aufgebaut werden können, die eine wirklich ausgewogene, realistische Beurteilung erheblich erschweren.
Jemanden schnell und einseitig als absolut bösen Feind darzustellen, entspricht den Mechanismen der Mediengesellschaft, die immer wieder gerne den Kampf zwischen Gut und Böse inszeniert. Die Wirklichkeit aber trifft das nur selten. Zumeist gibt es Schuld und berechtigte Anliegen durchaus auf mehreren Seiten. Keinesfalls soll das natürlich zu einer Verharmlosung militärischer Verbrechen führen. Gleichzeitig aber darf man nie vergessen, dass immer auch politische und wirtschaftliche Interessen hinter einer Verschärfung bestehender Krisen stehen. Es gibt eben auch eindeutige Gewinner des momentanen Ukraine- Kriegs, die USA und die Waffenproduzenten beispielsweise.
Zweifellos sprechen zahlreiche Berichte für schwere Gewalttaten der russischen Armee. Man sollte sich allerdings davor hüten, die gesamte Ukraine- Krise darauf zu reduzieren oder gar Russland mit den von Präsident Putin angeordneten Kämpfen zu verwechseln.
Momentan sind sich die Bürger vieler Länder wohl einig, Wladimir Putin ist ein böser Mensch und ein rücksichtsloser Diktator. Ganz sicher ist der ehemalige Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes und der erfolgreiche Machtpolitiker nicht gerade empfindlich, wenn es um die Durchsetzung seiner eigenen Interessen geht. Bei allen Menschenrechtsverletzungen darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch die Kampfeinsätze der NATO, des amerikanischen, britischen und französischen Militärs nicht ohne zivile Opfer ablaufen.
Wie in solchen Fällen üblich, neigt die mediale Berichterstattung zu groben Vereinfachungen bei denen es bald nur noch einen Hauptschuldigen für alle politischen Probleme des Augenblicks gibt. Da entsteht schnell ein trügerischer Tunnelblick, der wichtige Faktoren eines Konflikts ausblendet und andere weltpolitische Fragen plötzlich sträflich vernachlässigt.
Schon mittelfristig ist es eigentlich allen logisch denkenden Menschen klar, dass weder Europa noch der Rest der Welt ohne Russland auskommen wollen. Der durch eine längerfristige politische und wirtschaftliche Isolation Russlands entstehende Schaden belastet nicht nur die deutsche Industrie, sondern jeden einzelnen Bürger und auch internationale Verbindungen. Schon bald werden sich Politiker und Bevölkerung fragen, ob sie ein Land mit 144 Millionen Menschen dauerhaft ignorieren oder unter Quarantäne stellen wollen.
Wer jetzt zu sehr auf Russland starrt und immense politische, finanzielle und wirtschaftliche Ressourcen einsetzt, um Russland zu schaden, der sollte nicht vergessen, dass ihm diese Mittel in anderen, bald bevorstehenden Auseinandersetzungen verloren gehen. Weltpolitisch weitaus wichtiger als Russland werden in den kommenden Jahrzehnten zweifellos China und Indien sein. Momentan beobachtet die chinesische Führung erfreut, wie sich Europa und die USA mit ihren verschiedenen Aktionen gegen Russland selbst schaden und möglicherweise ins Abseits manövrieren. China ist ein geschwächter Westen durchaus Recht, um im Windschatten der politischen Ereignisse die eigene Macht unbemerkt weiter auszubauen. Einseitige oder übertriebene Maßnahmen könnten schon bald dazu führen, dass Europa noch schneller unter chinesischen Einfluss gerät, der ebenfalls weder freiheitlich noch demokratisch ist. Wenn China beispielsweise Taiwan eingreift, dann könnte dem Westen die Kraft fehlen noch glaubwürdig drohend aufzutreten.
Daneben gibt es noch immer die Gefahr durch den radikalen Islamismus und einige totalitäre arabische Staaten die diesen aktiv unterstützen. Diese Länder werden in der Ukraine- Krise aber plötzlich zu zweifelhaften Freunde, weil man jetzt auf ihr Wohlwollen angewiesen ist, um die benötigten Energielieferungen zu erhalten. Das ist eine ziemlich kurzsichtige und problematische Strategie. Verantwortungsvolle Politiker müssen außerdem daran denken, genügend Ressourcen für den ökologischen Wandel der Wirtschaft und die stetig älter werdende Bevölkerung vorzuhalten.
Wer jetzt immer stärkere und schärfere Maßnahmen gegen Russland fordert, der sollte dabei auch nie die damit verbundenen Kosten an Menschen, Material und Wohlstand vergessen. Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die übrigen Länder der Welt einschließlich der Ukraine. Man sollte sich nicht nur in immer neuen Sanktions- Forderungen überbieten, sondern immer auch überlegen, was diese lang- und kurzfristig bewirken, wen sie treffen und was sie für die eigene Gesellschaft bedeuten. Vor allem sollte man sich tunlichst vor nur schwer wieder rückgängig zu machenden Einschränkungen und Sanktionen hüten.
Es ist wieder einmal erschreckend zu beobachten, wie schnell bei entsprechender Berichterstattung neue Feindbilder in den Köpfen etabliert werden. Plötzlich wird Russland fast ausschließlich nur noch als Feind wahrgenommen und alle in Deutschland lebenden Russen als potentielle Gefährder. Das kann zu verheerenden Verzerrungen und neuem Rassismus führen. Auch sollte man sehr darauf achten, die in Russland lebenden Menschen nicht pauschal als Gegner oder Feinde zu betrachten. Wie eigentlich jeder weiß, muss man zwischen der Bevölkerung und der politischen Herrschaft unterscheiden, auch wenn die Propaganda in Russland offensichtlich ziemlich effizient wirkt.
Mit einer längerfristigen Perspektive sollte man daran interessiert sein, die russische Bevölkerung für sich zu gewinnen. Das wird alleine mit Sanktionen, Drohungen und einseitigen Schuldzuweisungen nicht funktionieren. Diese Politik spielt letztlich Leuten wie Wladimir Putin in die Hände, weil er jetzt ganz glaubwürdig verbreiten kann, dass der Westen Russland schaden will und die Russen hasst. Bei allem Druck muss man russischen Politikern und der russischen Bevölkerung eine realistische und erstrebenswerte Perspektive anbieten, auch ohne totalen Gesichtsverlust.
Christen sollten bei allem verbalen Säbelrasseln nicht vergessen, dass auch in Russland viele geistliche Geschwister wohnen und auch andere Leute, die Gott liebt. Christen sollten auch an diese Menschen denken und für sie beten. Sie sollten ihre guten Beziehungen zu russischen Christen nicht vorschnell auf Eis legen, weil Putin einen brutalen Krieg gegen die Ukraine führt. Christen beten sowohl für die leidenden Ukrainer, als auch für die leidenden Russen. Sie engagieren sich nicht für den Sieg irgendeiner Partei sondern für Frieden und Versöhnung auf allen Seiten.
(von Michael Kotsch)